Die innere Dimension in Veränderungsprozessen – Reflexion einer Lernreisenetappe am Generative Facilitation Institute.

Du selbst bist das wichtigste Tool. Das hörte ich letzte Woche mehrmals von Christine Wank (Generative Facilitation Institute, GFI), Holger Scholz (Kommunikationslotsen) und Mitreisenden im Rahmen einer Etappe meiner Lernreise am GFI. 

Die Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Zeit ist eine Herausforderung. Bisherige Versuche Komplexität zu reduzieren, Nichtwissen mit noch mehr Erklärungen zu begegnen oder Pläne noch besser zu planen stoßen in Unternehmen, Politik und Gesellschaft an ihre Grenzen.

Sich Nichtwissen, Unsicherheit, Unbeständigkeit und andere VUCA-Merkmale selbst einzugestehen ist noch voraussetzungsvoller als (widersprüchliche) Berichte darüber zu lesen und kognitiv zu erfassen. Ich schaue zu mir selbst: Wie schwer fällt es mir immer noch, gerade wirklich keinen Weg zu kennen. Mit Widersprüchen umzugehen. Nicht zu wissen, was der übernächste Schritt ist. Unbeständigkeit wirklich wirklich zu akzeptieren. Zahlen, Daten, Fakten, Berichte, Studien und Konzepte sind das eine. Doch wie erlebe ich alles – psychisch, emotional, körperlich? Wie erleben wir unser Leben als Gemeinschaft?

Vor allem als externe Beraterin will ich gerne sagen können, wo wir dran sind und wo es lang geht. Ein Bedürfnis nach Sicherheit ist da, gleichzeitig auch das Bedürfnis als Fels in der Brandung für Stabilität zu sorgen.

Christine und Holger ticken konsequent anders. Deswegen spricht Holger auch von einer anderen „Beraterzunft“, die er Facilitator nennt. Als Facilitator nimmt er an, dass das wesentliche Wissen bereits im System liegt und weit über Zahlen, Daten und Fakten in PowerPoint und Studien hinausgeht. Die Aufgabe des Facilitators ist das Gestalten und Halten von Räumen, in denen Bestehendes aufgegriffen wird, was bisher ausgegrenzt war. Dazu zählt beispielsweise Ohnmacht, Starre, Überforderung, Regression, Stress oder Hektik.

Bei Christine und Holger lerne ich, wie ich diese innere Dimension – individuell und kollektiv – ganz bewusst und voller Absicht in Veränderungsprozesse integrieren kann.

Ich teile hier ein paar Ideen, die ich aus meiner Lernreise als Generative Facilitator verarbeite und hoffe damit den ein oder anderen fruchtbaren Impuls geben zu können.

Die innere Dimension integrieren

Ganz praktisch können wir die innere Dimension beim Einteilen unserer Zeit integrieren. In der zweiten Etappe mit Christine und Holger planten wir relativ viel Zeit für die Arbeit mit unserem inneren Zustand, Reflexion, Intentions- und Gemeinschaftsbildung ein. Dafür nutzten wir verschiedene Methoden aus der Achtsamkeitspraxis, Journaling, Dialogue Walks, den Circle Way, das World Café, Rollenspiele, visualisierende Ko-Kreation.

Die intensive Arbeit kulminierte für mich gefühlt in der dritten Runde unseres virtuellen World Cafés. Die Frage war:

Wenn wir „unstoppable“ wären, was würde durch uns in die Welt kommen? 

Obwohl alle von uns aus unterschiedlichen Richtungen kommen, war doch ein gemeinsames Narrativ spürbar. Wenn wir „unstoppable“ wären, dann würde durch uns Begegnung in die Welt kommen.

  • Verbindung und Kontakt mit sich selbst, den anderen und der Natur.
  • Zusammenhalt und Miteinander.
  • Gemeinschaft für eine gesunde Welt.
  • Systeme, Organisationen und Unternehmen, in denen Menschen gesund werden anstatt gestresst und abgespalten von sich selbst und allem anderen.

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise berührte uns das alle sehr. 

Generative Prozesse gestalten

Wir erlebten generatives, schöpferisches Arbeiten. Generativ schreibe ich nicht altes, bekanntes weiter fort (reaktiv). Ich schöpfe aus dem Zukunftspotenzial und lasse Neues in die Welt kommen (kreativ).

Voraussetzung für generatives Arbeiten ist die achtsame Präsenz mit mir selbst und meinem Gegenüber. Ich öffne mich beim Zuhören, Beobachten und Hinspüren. Die innere Öffnung auf unterschiedlichen Ebenen (Kopf: Neugierde/ Herz: Mitgefühl/ Hand: Mut und Umsetzungskraft) übe ich mit Achtsamkeit und dem Trainieren mit meinen inneren Zuhör-Instrumenten, siehe Blogbeitrag hier. Sie macht mich neugierig aufs Neue, verbunden mit mir und mit meinem Umfeld. Ich bin bereit mutig das Neuland zu erkunden.

Christine und Holger zeigen uns, was diese Öffnung wirklich wirklich bedeuten kann. Wir lehnen uns aus unseren „Bubbles“ heraus. Das kann auch unbequem werden. Christine zitierte Gunther Schmidt mit der „radikalen Utilisierung“ dessen, was sich zeigt. Sogenannte Irritationen, reaktive Muster oder Widerstand müssen kein Problem sein, wenn wir mit ihnen schöpferisch arbeiten. Wir können diese als wertvolle Rückmeldungen über Bedürfnisse in der Gruppe anerkennen. Auch den kritischen Stimmen unterstellen wir eine positive Intention. So sind es gerade diese Irritationen und der Umgang mit ihnen das, was den weiteren Prozess besonders transformierend beeinflusst. Wir erkennen, benennen, integrieren und wachsen weiter – gemeinsam und mit allem, was da ist.

Auch in unserer Gruppe gab es immer wieder kritische Stimmen. Vor allem die Umstellung des ursprünglich als Präsenzveranstaltung in Berlin geplanten Moduls in die virtuelle Welt rief teilweise Unmut, Frust und Enttäuschung hervor. Christine hieß diese Stimmen mit ihrer authentischen und liebevollen Art Willkommen. Willkommen Frust, Willkommen Enttäuschung – und dann gleich die Einladung zu erkunden, wie wir das als Gruppe aufgreifen und verarbeiten möchten. Das Ergebnis hat Christine dabei sicher nicht vorher geplant. Im generativen Modus lassen wir uns auf das ein, was entstehen möchte. Und das ist erfahrungsgemäß oft und gerne überraschend für alle Beteiligten.

Psychologische Sicherheit als Rahmen bilden

Ein wichtiger Rahmen für generative Prozesse gibt die psychologische Sicherheit. Menschen sollten sich wahrnehmen und zeigen dürfen mit ihren Ideen und Hoffnungen, wie auch mit ihrer Unsicherheit, ihrem Nichtwissen, ihrer eigenen Widersprüchlichkeit, Befürchtungen, Ängsten und der Vielfalt, die sie menschlich machen. Das Sich-zeigen verbindet uns miteinander. Wir lernen voneinander und können unsere kollektive Weisheit anzapfen. Der Facilitator schafft Bedingungen, in denen psychologische Sicherheit entstehen darf. Holger spricht hier von der Einführung „sozialer Technologien“ und baut dabei auf der Arbeit von Otto Scharmer mit der Theorie U auf. Menschen werden anders zusammen gebracht, als sie es gewohnt sind. Sie begegnen sich anders, hören mit einer anderen Präsenz zu und können Neues besser einladen. Hervorheben mag ich hier die Erfahrungen in unserem Kreis, der auch virtuell seine Magie entfachte. Dank dem Kollaborationstool Miro und den vorher vorbereiteten kleinen Fotostickern von uns konnten wir uns sogar sichtbar für jeden den Redestein untereinander weiterreichen und in unsere „Mitte“ sprechen.

In einem Umfeld des Vertrauens und der Sicherheit können wir neue Schritte wagen. Wir dürfen unsere Potenziale entfalten. Wir schaffen „Inseln des gesunden Menschenverstands“ (Islands of Sanity, Margaret Wheatley), die weiter wachsen dürfen. Wir erleben bei unserer Arbeit mit Christine und Holger, wie wir uns genährt fühlen und durch unsere Arbeit in Gemeinschaft lebendiger und gesünder werden. 

Gemeinschaft bilden

In einem erkundenden Modus lade ich als Facilitator Menschen mit verschiedenen Interessen in ein kollektives Feld des Forschens, Erkundens, Experimentierens, Lauschens, Lernens und Ko-Kreierens ein. 

Community Building first, decision making second

betonte Holger immer wieder. Wenn sich die Menschen füreinander öffnen – neugierig, mitfühlend und bereit für nächste und neue Schritte – verändert sich das soziale Feld. Starre Muster, Vorurteile, Mutmaßungen, hierarchische Spaltungen werden erkannt, benannt und dürfen sich verändern. In Verbindung und mit Zusammenhalt entstehen Ergebnisse, mit denen wir uns alle identifizieren können. Wir waren dabei, haben mitgestaltet, unsere Selbstwirksamkeit und sinnvolles Wirken erlebt. Wir haben unsere Begleiter:innen schätzen und lieben gelernt und werden auch in Zukunft zusammenhalten. Projekte werden sich ändern, unsere gemeinsamen Erlebnisse bleiben für immer. Dieses Gefühl kann Berge versetzen.

Grundannahmen erkennen und benennen

Diese mächtige Arbeit, die wir hier mit Christine und Holger erleben, könnten vor allem von existierenden Grundannahmen herausgefordert werden. Grundannahmen sind Denkprozesse, die von sich selbst behaupten, dass sie nicht existieren (David Bohm). Sie verursachen starre Muster und Vorurteile. Beispiele für Grundannahmen, die ich aus meinen früheren Beraterleben kenne sind: „Wir haben keine Zeit für Reflexion,“ „Gefühle haben im professionellen Kontext nichts zu suchen,“ „Man muss sich nur noch mehr anstrengen, dann geht das schon,“ „Die anderen verstehen das halt einfach nicht,“ „Innehalten kannst Du im Feierabend,“ „Wir machen das um Geld zu verdienen…“ Diese verhindern das Anzapfen von kollektiver Weisheit.

Die Arbeit mit Grundannahmen kann der Gamechanger werden. Hier ist die Ebene, auf der ich nicht mehr nur IM System kleine Veränderungen vornehme (auf Inhalts- oder Prozessebene), sondern AM System arbeite und damit grundlegende Transformation bewirke. Ob ich als Facilitator im oder am System arbeite, hängt von meinem Auftrag ab, dessen Klärung ich bereits ko-kreativ gestalten kann.

Sowohl als auch und noch viel mehr

Dieser Satz begleitete uns durch die gemeinsame Etappe der Lernreise. Er lädt zu einer Öffnung ein, die uns in unbekannte Gefilde schickt. Er ist eine Einladung für neue Sichtweisen. Ein Willkommen-heißen des Anderen und bisher Ausgegrenzten. Als generativer Facilitator arbeite ich schöpferisch mit dem, was sich mir im Äußeren und Inneren zeigt. Ich integriere das, was bisher ausgeschlossen wurde und trotzdem stark mitwirkte. 

In einer Zeit, in der so sehr am gesellschaftlichen Zusammenhalt gerüttelt wird, kann Generative Facilitation vielleicht neue Türen und Wege öffnen. So sehe ich in den Ansätzen nicht nur für Unternehmen eine tolle Chance neue Wege zu gehen. Facilitation bringt Menschen zusammen, die sich sonst nicht (so) sehen, hören und sprechen würden. Der generative Ansatz könnte vor dem Hintergrund der Corona-Krise und den vielen „Lagern“ auf gesellschaftlicher Ebene zu einer erkenntnisreichen Erkundungsreise führen.

Was ich daraus machen möchte

Ich stelle mich als Facilitator in Veränderungsprozessen selbst zur Verfügung: Mit meiner Wahrnehmung, meinem Spüren in Verbindung mit mir selbst, zur Natur und den Menschen um mich herum. Meine Liebe für den Menschen schließe ich in mein professionelles Wirken ein. Gerne schaue ich immer wieder in meinen alten Koffer mit Tools und Methoden aus dem Beraterleben. Doch das wichtigste Tool bin ich selbst. Meine Klarheit, meine Präsenz und Feinfühligkeit, meine Bereitschaft auf den verschiedenen Ebenen zuzuhören und Fragen zu stellen, mein Staunen und meine Bereitschaft für Wunder.

Danke an Christine und Holger für diese Reise und die unendlichen Möglichkeiten, die nun erkundet werden möchten.

A-hej.

Audio: Meine Achtsamkeitsübung zur Öffnung unserer inneren Instrumente (aus Insight Timer)

Ergänzende Beiträge:

Facilitate U Lernreise mit Christine Wank – Wie kommt das Neue in die Welt?

Listening Circles – Öffnen für neue Möglichkeiten: mit Kopf, Herz und Hand.

Forschungsreise „Virtual Facilitating“

AQAL Modell: Die Inneren Suchmaschinen optimieren.

 

 

1 Gedanken zu “Die innere Dimension in Veränderungsprozessen – Reflexion einer Lernreisenetappe am Generative Facilitation Institute.

  1. Michaela Bacher

    Liebe Tanja,
    ja, ja, ja. Dieses Gefühl entsteht bei mir beim Lesen. Ich sehe eine wunderbare Beschreibung, kann die Bezüge erkennen und sehne mich danach so zu wirken. Danke fürs wundervolle Teilen deiner Lernerfahrung.

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