Meine Freundin Renata sprach letztens von den „grauen Herren“ und deutete damit auf den Roman „Momo“ von Michael Ende hin. Die grauen Herren leben von gestohlener Zeit, die sie in Zigarren verrauchen. Sie sind ständig beschäftigt, schreiben in ihre Notizbücher und verbreiten eine ungemütliche Kälte. Sie tragen bleigraue Aktentaschen und existieren, weil „die Menschen ihnen die Möglichkeit dazu geben.“
Unser Thema war jedoch nicht Momo, sondern unser Business-Umfeld. Wir benutzten für unsere weiteren Überlegungen die Beschreibung „graue Herren“ für das steife, harte, verkopfte, zahlen-daten-fakten-orientierte und stark vorhersehbare Management der Business-Welt, aus der wir kommen. Wir spürten die Versuchung, die einen oder anderen Kolleg*innen sogar konkret als „graue Herren“ zu bezeichnen. Dabei mussten wir uns jedoch zugestehen, dass wir eigentlich auch die „grauen Herren“ von uns selbst kennen: Ein verkopfter, kontrollierender und teils aktionistischer Zustand des Arbeitens, unter dem wir kaum wirklich kreativ werden können und Probleme immer auf die gleiche Art lösen.
Ich befürchte, dass „New Work“ oder die tollen agilen Methoden und potenziell auch die nächsten Trends ebenfalls Zigarren für graue Herren produzieren, selbst wenn sie vielleicht etwas bunter oder lustiger zu sein scheinen. Wenn die Zigarren der grauen Herren nur einfach agiler, schneller oder effizienter verraucht werden, geht es uns als menschliche Wesen und Erde nicht wirklich besser.
Wie können wir in der Business-Welt besser in das investieren, was wir Menschen wirklich brauchen: gesunde Körper, eine gesunde Erde, Zusammenhalt, Gemeinschaft und Verbundenheit? Wie können wir Geld und Digitalisierung nicht als Zweck, sondern als Mittel zum Zweck einsetzen? Wie hören wir auf, mehr graue Herren und Zigarren aus gestohlener Zeit zu produzieren?
Zeitverschwendung oder der Schlüssel zur Veränderung?
Um wirklich Neues zu schaffen und die Zigarren obsolet zu machen, können wir zu Momo schauen. Momo besiegt die grauen Herren, in dem sie Muster anwendet, die für diese und unsere Business-Welt total abwegig sind und bisher als „fehl am Platz“ oft noch nicht einmal in Betracht gezogen wurden. Herzintelligenz? Gefühle und emotionale Intelligenz explizit einbeziehen? Langsamer werden? Sogar rückwärts gehen (reflektieren, hinterfragen)? Sich zuhören, was den anderen wirklich wirklich bewegt? Für Business und graue Herren ist das oft eine Zeitverschwendung…
Doch genau darum geht es vielleicht jetzt. Die Business-Welt könnte aufhören mehr Zigarren zu produzieren: immer mehr vom Gleichen in unterschiedlichen Farben und Größen. Ein anderes Paradigma braucht einfach keine grauen Herren und keine Zigarren mehr.
Mit der Integration des bisher Abwegigen (und gleichsam immer Anwesenden) können neue Dinge entstehen. Was würde passieren, wenn wir emotionale Intelligenz und Mensch-sein, Langsamkeit, Stille und Zuhören in Kontexte integrieren, in denen sie bisher keinen Wert hatten und als Zeitverschwendung abgewunken wurden? Entsteht dann nicht unweigerlich Neues?
In welchem Zustand wirkst Du?
Meine Erfahrung: durch die bewusste Integration der Stille und Langsamkeit bekommen alle mehr Luft zum atmen und letztendlich einen bedeutend besseren Anschluss zu ihrer Kreativität. Die braucht es gerade sehr, um an den vielen Stellen Probleme zu erkennen und neue und für heute passendere Wege zu gehen.
Es reicht eben nicht mehr bestimmte Tools und Methoden abzuspulen und gut zu funktionieren. Das wichtigste Tool bist Du selbst. Es zählt weniger, was Du tust, als wer Du bist beim Tun. In welcher Verfassung und in welchem Zustand arbeitest und wirkst Du? Bist Du im Modus des Abarbeitens und Herunterspulens oder bringst Du Dich als Mensch ein – mit Kopf, Herz und Hand? Machst Du, was Dir graue Herren sagen oder schaust Du hin und hörst zu, was es wirklich wirklich braucht um Dich herum?
Zuhören als Musterbrecher
Neue Wege gehen über eine andere Art des Zuhörens. Ich habe bereits in einem anderen Artikel über die großartige Arbeit von Christine Wank berichtet. Bei ihr habe ich den Umgang mit meinen drei inneren Instrumenten des Zuhörens gelernt: wirklich mit Neugierde auf der faktischen Ebene zuzuhören (Curiosity), mitfühlend auf der menschlichen Ebene (Compassion) und mit einem Gefühl für die tatsächliche innere Entschlossenheit und Umsetzungsbereitschaft für das, worüber gesprochen wird (Courage). Mit Kopf, Herz und Hand öffnen wir uns für neue Möglichkeiten.
In mehreren virtuellen Kreisen habe ich mittlerweile damit experimentiert und festgestellt, wie schnell und einfach die Menschen die verschiedenen Arten des Zuhörens übernehmen können und in ihren eigenen Kontexten adaptieren. Gleichzeitig ist der Effekt riesig, denn bisher wurde meistens noch nicht einmal das erste innere Instrument der Neugierde voll genutzt. Alle Methoden – von agil bis next soundso – bekommen durch diese Qualitäten eine neue Wirkung.
Positive Auswirkungen des Zuhörens
Nun forsche ich mit mehreren Prototypen daran, wie mehr „Listening“ im Sinne von ganzheitlichem Zuhören im Business-Kontext entstehen kann und welchen Impact dies auf die Menschen, die Organisation und deren Beitrag zum großen Ganzen hat. Dabei habe ich einige Einschätzungen gewonnen. Echtes Zuhören…
- … begegnet Hektik, Aktionismus und Oberflächlichkeit mit gegenläufigen Mustern wie Achtsamkeit, Selbstbeobachtung und Reflexion in einem geschützten Raum.
- … schafft Offenheit für andere Sichten und Perspektiven und damit wiederum ein kreatives Potenzial.
- … schafft eine Kultur der Anteilnahme, des Vertrauens, der (inneren) Sicherheit und Potenzialentfaltung.
- … lässt erkennen, dass es nur System und Symptome gibt statt Sündenböcke und Dummköpfe (das System erkennt sich selbst und verändert sich damit).
- … zapft Innovationspotenzial an und kreiert neue (relevante) Ideen und Ansätze für Probleme der heutigen Zeit.
- … justiert oder erneuert die Ausrichtung und Intention des einzelnen, der Teams und Organisationen. Somit geht es nicht mehr nur um Effizienz und Optimierung (andere Dinge tun statt die gleichen Dinge anders tun).
- … schafft Entschlossenheit und Identifikation mit dem Weg, der eingeschlagen wird.
Egal ob Scrum Master, Azubi oder CEO, alle können ihre inneren Instrumente des Zuhörens trainieren wie ihre Muskeln im Fitnessstudio. Ein regelmäßiges Trainieren sorgt für spürbare Veränderung im jeweiligen Wirkungsbereich. Eine tolle Möglichkeit zum Trainieren sind virtuelle Kreise.
Listening Circles in Organisationen
Kreise oder neudeutsch „Circles“ haben eine jahrtausendelange Tradition und schon immer eine Kultur schaffende Bedeutung gehabt. Sie sind für Organisationen recht einfach zu organisieren – vor allem virtuell. Unabhängig vom Ort können sich 6-8 Menschen über einen Zeitraum von 10 Wochen einmal wöchentlich für eine Stunde in einem digitalen Raum treffen. Die Kreise können intern quer über Bereiche, Rollen und Standorte stattfinden. Auch unternehmensübergreifende Kreise sind möglich. Kreise sind partizipativ und leben von ihren Mitgliedern. So ist jeder Kreis wirklich einzigartig. Die Mitglieder einigen sich auf ein paar einfache dialogorientierte Regeln und haben jede Woche einen Schwerpunkt für ihren Kreis.
Ich experimentiere gerade mit „Listening Circles“ mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Menschen erleben hier wie oben angedeutet einen anderen Kontext als den, den sie von ihrem sonstigen Arbeitsalltag kennen: Langsamkeit, Stille, ungeteilte Aufmerksamkeit.
Hier können Menschen in einem geschützten Raum üben und erleben, was Zuhören und zugehörtes Sprechen bedeuten kann. Sie üben sich zu öffnen (Open Mind, Open Heart, Open Will nach Otto Scharmer). Sie lernen sich selbst und andere zu spiegeln und erleben die Bedeutung von emotionaler Intelligenz und innere Selbstführung in Kontakt mit sich und den anderen. Sie trainieren ihre eigene Präsenz in Kontakt mit anderen zu halten und können vielleicht den Raum jenseits von Position und Isolation erfahren. Hier dürfen sie sich idealerweise verletzlich zeigen, ihre Waffen fallen lassen und vom Moment aus kreativ werden und neue Wege beschließen. Ganz gleich in welcher Rolle die Mitglieder sonst unterwegs sind: durch das innere Einstimmen ihrer Zuhör-Qualitäten wird sich ihre Beziehung zu sich selbst und ihrem Umfeld vertiefen und verändern.
Prinzipien des Listening Circles
Im Listening Circle begegnen wir uns als Menschen und kommen durchs Zuhören zum Zugehören. Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Verbundenheit sind menschliche Grundbedürfnisse. Wenn diese erfüllt sind, kann der Mensch auf Grabenkämpfe, Konkurrenz und politische Spielchen verzichten. Die Energie geht nicht mehr in Prozesse von Schutz und Abwehr. Sie kann für das Leben und dessen Kreativität eingesetzt werden. Jeder Mensch, jedes Team und jede Organisation profitiert von diesen Erfahrungen.
Weiter ermöglicht der Listening Cicle ein anderes Problembewusstsein, für dessen Lösung die Organisation eigentlich existiert. Durch das regelmäßige Hinterfragen und die Reflexion des eigenen Wirkens können die Kreismitglieder ihren Sinn und ihre Ausrichtung klar formulieren. Wofür stehe ich? Nicht nur mit dem Kopf, sondern als ganzer Mensch? Eine konsequente Ausrichtung auf Intention statt auf Pläne und Strukturen verkürzt viele Wege der Problemlösung. Die Kreismitglieder reflektieren gemeinsam, was von ihnen gebraucht wird. Und wie das zusammen passt mit dem, was ihre Möglichkeiten sind, was sie mitbringen und was der eigene Weg ist. Sie unterstützen sich gegenseitig beim Vernetzen und schaffen eine neue virtuelle Struktur innerhalb und zwischen den Kreisen, aus der sich letztendlich eine neue Kultur der Gemeinschaft und Verbundenheit quer über die Organisation und darüber hinaus entwickelt.
Fazit – Raus aus dem Paradigma der grauen Herren
Im Michael Ende’s Roman Momo gibt es ein Happy End. Die grauen Herren und die Zigarren verschwinden und die Kälte ist weg. Aus einer gefühlten Eiszeit unter dem Paradigma der Zeitknappheit wird eine fruchtbare lebendige Zeit der geheilten, liebevollen und fröhlichen Menschen. Die ganze Welt wacht wieder auf. Ein neues Paradigma tritt in Kraft. Die Kälte und Starrheit weicht der Fruchtbarkeit, Kreativität und Liebe zum Leben.
Um wirklich agil zu werden, sollten wir uns aus der eisigen Zeit der grauen Herren befreien. Erst wenn das Eis geschmolzen ist und wir auftauen, können wir fest gefahrene Strukturen auflösen und beweglich, lebendig und flexibel werden. Daher ermutige ich zu neuen Mustern, zur Herzenswärme, zum Einladen des bisher Ausgeladenen, zum Integrieren von Gespür, Neugierde, Anteilnahme und dem Mut, andere Dinge anders anzugehen.
Der Prozess und das Wachsen dieses Artikels ist vor allem beeinflusst von meinen Gesprächen mit den wunderbaren Menschen Renata Zmrzla, Michaela Bacher, Peter Schreck und Wolfgang Fiebig. Ich freue mich auf die Weiterentwicklung und alles, was daraus entsteht!
Einladung zum Mitmachen
Du fühlst Dich angesprochen und möchtest in Deinem Umfeld Listening Circles etablieren? Oder einfach nur teilnehmen? Wir laden Dich herzlich ein mitzumachen beim Erforschen und Erleben von Listening Circles in Organisationen. Melde Dich gerne!
Danke liebe Tanja, dass Du diese Metapher so wunderbar belebst. Ich gebe in allem Recht und frage mich auch angesichts unmittelbarer beruflicher Erlebnisse wie es gelingen kann die Starre, Kälte und das Maschinelle zu überwinden in den Chefetagen. Nicht nur, dass sie genau wie Du sagst alle new soundso Ansätze für schnellere Zigaretten missbrauchen; es scheint fast als wäre das Menschliche, das Beseelte gar nicht wach, da ist gar kein Hauch von Anknüpfungspunkt. Und ich empfinde es für die Mitarbeiter*innen zunehmend als blanke Verhöhnung diese beseelten Methoden anzubieten, wohl wissend, dass sie in der Gesamtunternehmenskultur so viel Chancen haben wie eine Schneeflocke in der Hölle. Mein derzeitiges Fazit: das Neue konsequent jenseits der alten Strukturen bauen. Change is dead, long live the Change!