Zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht – Warum der Zustand des Nichtwissens so wichtig ist

Unsicherheit und Nichtwissen sind in der Regel gesellschaftlich unerwünscht und persönlich schwer auszuhalten. In Veränderungsprozessen spielen jedoch genau dieses Nichtwissen und die damit verbundene Unsicherheit eine wichtige Rolle. In diesem Beitrag zeichne ich auf, wie ich persönlich mit diesem so wertvollen Punkt zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht umgehe. Ich hoffe meinen Leser*innen damit ein paar Impulse für eigene Veränderungsprozesse zu geben. Unsicherheit und Nichtwissen gehören zum Veränderungsprozess dazu. Und es ist entscheidend, wie wir mit diesem Punkt umgehen. Schrecken wir zurück? Kehren wir zurück in alte Muster? Bekommen wir Angst? Wehren wir Angst mit Wut und Aggression ab? Alles ist möglich und alles ist menschlich. Ein Wissen um das Nichtwissen und den Umgang damit kann jedoch ungemein helfen…

Nicht-mehr, Nichtwissen, Noch-nicht – Veränderungsprozesse begreifen

Bei vielen Menschen auf der ganzen Welt bringt die Corona-Krise Veränderung mit sich, gezwungenermaßen oder selbst gewählt. Die ganze Welt steht in einem großen Veränderungsprozess.

Im Kleinen für mich und vielen Menschen um mich herum wie im Großen für die Welt sehe ich Veränderung und gleichzeitig die Gefahr, zu früh mit reaktiven Mustern zu handeln oder mit Abwehrmechanismen wie Wut und Aggression zu antworten. Natürlich ist vieles „Alte“ gut und nützlich. Doch manches „Alte“ darf losgelassen und verändert werden. Das ist jedoch nicht so leicht. Das Alte wird oft nur deswegen wieder aufgegriffen, weil das Neue noch zu weit weg scheint und scheinbar unüberwindbare Hindernisse auftauchen.

Ich rege an Dich selbst zu fragen: Wo möchtest Du Bekanntes stärken und auf alte Muster zurückgreifen? Wo möchtest Du die kleinen verletzlichen Samen des Neuen säen und wachsen lassen? Daraus kannst Du ableiten, für welche Veränderung Du Dich mit dem Punkt der Unsicherheit und des Nichtwissens konfrontieren musst.

Der benannte Punkt liegt zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht. Unser Denken, Fühlen und Verhalten in diesem Punkt entscheidet wesentlich über den Erfolg und die Nachhaltigkeit unseres Veränderungsprozesses.

Zurzeit beobachte ich an vielen Stellen der Öffentlichkeit eine Angst vor diesem Zustand des Nichtwissens. Viele Dinge müssen sich verändern, doch oft scheint das Altbekannte naheliegender zu sein als die vielen neuen Möglichkeiten, für die jetzt ein guter Raum für Weiterentwicklung wäre.

Für jeden mag „das Neue“ etwas anderes bedeuten. Im Folgenden erzähle ich ein wenig von meinen Veränderungsprozessen, um konkreter zu werden und mein eigenes Nichtwissen beispielhaft greifbarer zu machen. So möchte ich dazu ermutigen, Veränderungsprozesse komplett durchzulaufen und nicht in der Mitte – am entscheidendsten Punkt – abzubrechen. Es lohnt sich.

Das Nicht-mehr benennen

Veränderung geht mit Abschied einher. Was ist Dein ganz individuelles Nicht-mehr? Worauf kannst und willst Du zukünftig verzichten? Mache Dir bewusst, um was es hier geht.

Persönlich habe ich ich mein Nicht-mehr geschaffen, in dem ich konkrete Aufgaben oder Rollen abgegeben habe. Ich habe mich von Kursen oder Projekten abgemeldet und miste unser Haus aus. Ich verabschiede mich von dem ein oder anderen Kontakt. Das ist nicht immer einfach und darf auch mal weh tun. Das Loslassen ist wichtig, um wirklich neue Wege gehen zu können. Ich schaffe bewusst Raum für das Neue.

Den Raum hinter dem Nicht-mehr entdecken

Ich habe das Nicht-mehr los- und hinter mir gelassen. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Es geht weiter, aber ich weiß nicht wie. Ich habe nur eine Ahnung. Ich bin im Nichtwissen.

Wie gehe ich mit dem Nichtwissen um? Ich merke, wie schwer es mir fällt keine klaren Antworten zu haben. Wie viel schwerer muss das sein für Personen, die deutlich mehr Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit haben als ich? Doch trotzdem lohnt es sich diesen Zustand der vielen Antwortmöglichkeiten und des wenigen Festgesetzten wirklich zu nutzen.

Den Raum zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht erkunden

Manchmal genieße ich diesen Zustand der völligen Offenheit, in dem alles möglich zu sein scheint. Manchmal jedoch sehe ich mich mit einer Ladung Ungeduld konfrontiert, die dazu neigt in Angst oder Resignation zu flüchten, wenn nicht alles etwas schneller geht. Diese Ungeduld hat manchmal sogar etwas Aggressives und Wütendes. Ich beobachte diese Zustände und halte sie. Das ist nicht immer einfach, sondern ganz schön herausfordernd. Würde ich mich mit diesen unterschiedlichen inneren Dynamiken identifizieren, würde ich Angst, Ungeduld, Wut oder Aggression ausagieren (wie wir das aktuell ja leider bei dem ein oder anderen Politiker beobachten können),

Genau in diesem nicht ganz so angenehmen Zustand zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht ist die Gefahr groß, wieder in die alten Muster zurück zu kehren oder schlimmer noch – dysfunktionale Muster mit ausagierten Abwehrmechanismen noch weiter zu verschärfen. Ich beobachte mich mit den Fragen: Wie einfach wäre es… doch auf das Alte zurückzugreifen? … doch wieder altbekannte Projektangebote anzunehmen? … doch wieder in alte Rollen zu schlüpfen? … doch wieder in alten Glaubenssätzen zu verweilen, die den ein oder anderen mutigeren Schritt entschuldigen? … doch wieder das aufzugreifen, was man eigentlich gerade ganz bewusst losgelassen hat?

Auch im Weltgeschehen beobachte ich diese Zerrissenheit. Natürlich ist es für die Politiker und Wirtschaftsbosse noch schwieriger als für mich, sich im Zwischenzustand aufzuhalten. Sie werden ständig gefragt, wie es weiter geht. Sie denken sie müssen Rechenschaft ablegen und Antworten haben. Doch genau hier geht es darum, dieses Nichtwissen anzuerkennen und damit professionell umzugehen.

Zu schnelle Antworten können gefährlich sein. Sie lenken vom kreativen Potenzial des Raums zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht ab.

Viele hoffen, dass „nach Corona“ bestimmte Dinge anders laufen. Doch wenn zu früh zu schnell dieser Zustand im „Nichts“ zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht abgebrochen wird, dann wird vielleicht doch zu rasch wieder das Altbekannte wiederbelebt – oder Abwehrmechanismen greifen und verschärfen die Situation für alle Beteiligten.

Was uns hilft den Zustand des Nichtwissens zu würdigen

Ich möchte dazu ermutigen, diesen Zustand des Nichtwissens zu halten und zu würdigen. Das große Neue kommt vielleicht gerade dann, wenn ich nicht direkt mit Antworten reagiere. Ich gehe bewusst nicht auf die vertrauten Einladungen der Vergangenheit ein. Ich gehe bewusst nicht auf psychische Dynamiken ein, um das herausfordernde Nichtwissen zu vermeiden. So erhält meine Aufmerksamkeit die Pause, die entsteht, wenn ich wirklich nicht weiter weiß. Das ist eine sehr ungewohnte Position, jedoch voller Potenzial.

Dieser Zustand zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht will gehalten sein als der, der er ist: Der Raum voller Potenziale. Im Nichtwissen und in der Offenheit heiße ich das willkommen, was sich zeigen möchte.

Mut und Entschlossenheit – wie ich das Nichtwissen aushalte

Das, was mich in diesem Unbekannten hält, ist meine Entschlossenheit und mein Mut neue Wege zu gehen. Ich greife nicht auf die Muster des Alltags zurück, die ich gerade verabschiedet und losgelassen habe. Diese Entschlossenheit ist eine innere Kraft. Tief in mir weiß ich, wie ich leben und arbeiten möchte. Ich erkenne Situationen, in denen ich das tue, was dem aktualisierten Entwurf meiner Selbst entspricht. Wenn es noch kein stabiler Zustand ist, so merke ich doch täglich in welchen Situationen ich nach meinen neu gesetzten Werten agiere und ich mich meiner Vorstellung einer besseren Version meiner Selbst nähere. Hier spüre ich mit meinem ganzen Körper, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Diese innere Entschlossenheit fühlt sich zutiefst angebunden an eine Ordnung an, die ich mit meinem stets abwägenden Verstand noch nicht greifen kann. Willkommen in transrationalen Gefilden, in denen vor allem Introspektion, Emotionale Intelligenz, Selbstführung und Offenheit zählen.

Kleine Schritte ins Noch-nicht – Prototyping und realisieren der Veränderung

Prototypen helfen dabei, der erwünschten Zukunft Formen zu geben und sie zu stabilisieren. Für mich sind das zum Beispiel neue Angebote, die ich in einem ausgewählten Kreis platziere, um Resonanzen zu testen. Oder ein Gespräch mit einem potenziellen Business Partner. Oder eine kleine Forschungsreise mit Peers im virtuellen Raum.

Die Prototypen zeigen mir, wie mein Leben im Noch-nicht aussehen könnte. Ich gebe mir Zeit für meine Prototypen und heiße die Möglichkeiten weiter willkommen.

Demnächst werde ich woanders sein und mich gerne an diesen Zustand der Unsicherheit und der vielen Möglichkeiten erinnern.

Der Welt wünsche ich diese Experimentierfreude. Unzählige Ideen für Prototypen stehen in den Startlöchern. Ich wünsche mir, dass zumindest ein Teil der Milliarden Euros, die aktuell vom Staat in die Wiederbelebung von alten Systemen fließen, ganz bewusst in das Prototyping investiert wird.

Ansätze für ein Gemeinwohl orientiertes System und regenerierende Lösungen für Umwelt und Natur sind vorhanden und brauchen Ressourcen. Genau hier sind diese Samen des Neuen, die wir nun hoffentlich nicht kaputt treten oder übersehen.

Wenn wir uns jetzt die Zeit nehmen nicht sofort zu reagieren, sondern uns eine gefühlte Millisekunde Verzögerung erlauben und uns in den Raum zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht aufhalten, dann schaffen wir vielleicht das wirklich Neue in unser Leben zu lassen. Dieser Zwischenraum ist ein Geschenk. In meinem kleinen eigenen Leben nehme ich das Geschenk dankbar an. Schafft es auch die Welt?