Wie wir unser soziales Gehirn trainieren können und warum das für Bildung und Wirtschaft so wichtig ist.

Die Forschung der Professorin für Soziale Neurowissenschaften Tania Singer lässt mich in vielerlei Hinsicht nicht mehr los. In diesem Artikel verarbeite ich einige Erkenntnisse, die mich mitten in meinem beruflichen und privaten Alltag treffen. Beruflich als Begleiterin von Veränderungsprozessen im Wirtschaftskontext und privat als Mutter von 3 kleinen Kindern, für die wir Schulen suchen, die sich vor allem auf Zukunftskompetenzen ausrichten. So werde ich in diesem Artikel genau das verarbeiten: worum geht es in den sozialen Neurowissenschaften, welche Schlüsse leite ich für unser Wirtschaftsleben ab und welche Wünsche habe ich für die Bildung von Erwachsenen und Kindern?

Intro: Was ist das soziale Gehirn?

Singer erforscht das soziale Gehirn, d.h. alle Netzwerke im Gehirn, die soziale Fähigkeiten erlauben. Sie stellt wissenschaftlich dar, dass und wie wir Skills wie Empathie, Mitgefühl und kognitive Perspektivübernahme erlernen können.

Zu Anfang hat sich Tania Singer gefragt, wie eigentlich soziale Transformation geschehen kann. Natürlich gibt es in den äußeren Dimensionen (siehe AQAL-Modell) viel zu tun, wie z.B. eine kluge Gesetzgebung und sinnvolles institutionelles Design. Doch Tania Singer betont die innere Dimension. Um verantwortungsvolle Weltbürger zu werden und weitsichtige inklusive Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir eine fühlbare Verbindung zueinander und mit der Welt. Das ist ein großer Unterschied zum reinen Wissen um unsere Verantwortung, die wir ohne fühlbare Verbindung auch einfach ignorieren (können).

Mentales Training und Bildung sind hier die Tools.

Singer arbeitet interdisziplinär und vernetzt. Sie erforscht die Kultivierung von sozialen Kompetenzen, Gemeinschaft, globaler Kooperation, Interdependenz/ Nachhaltigkeit, mentaler Gesundheit/ Wohlbefinden sowie Stressreduktion und die Stärkung unseres Immunsystems mithilfe von mentalem Training und Bildung. Singer zeigt die Plastizität (Trainierbarkeit) unseres sozialen Gehirns eindrücklich auf.

Vor dem Hintergrund des Anstiegs an krisenhaften Zeiten, gesellschaftlicher Fragmentierung und Trennung von der Natur sind die oben genannten inneren Kompetenzen wichtig für die Transformation der Gesellschaft. Singer spricht sogar von einer kulturellen Pandemie, die einen Schwerpunkt auf die äußeren Dimensionen setzt und die andere Hälfte übersieht. Sie sagt auf Ihrer Website:

Die Abwesenheit von Mitgefühl ist die Ursache für die meisten unserer derzeitigen globalen Probleme.

Forschung zum sozialen Gehirn

Soziale Neurowissenschaften sind multidisziplinär. Wir Menschen als soziale Wesen werden in der Forschung mit verschiedenen Instrumenten bemessen: Qualitative Interviews und Beobachtungen versuchen bspw. die subjektive Wahrnehmungen, Gesundheit, Kooperativität und kommunikative Muster zu erfassen. Gehirnscans visualisieren Veränderungen der grauen Substanz im Gehirn und belegen die Trainierbarkeit. Messungen des Hormonhaushalts, vor allem des Stresssystems, geben Aussagen über Gefühlszustände und Hinweise zu regenerativen oder ungesunden Verfassungen.

Schwerpunkt Singers Arbeit der letzten Jahre war das ReSource-Programm. Das war eine interdisziplinäre Langzeitstudie mit 300 Probanden. Neben der Kontrollgruppe sind die Teilnehmenden drei dreimonatige Blöcke mit folgenden Schwerpunkten durchgelaufen:

Aufmerksamkeit/ Achtsamkeit:

Hier ging es um die Fähigkeit den eigenen Geist zu fokussieren, sich selbst differenzierter wahrzunehmen und Präsenz zu halten.

Empathie/ Mitgefühl:

Empathie ist hier die Fähigkeit mit dem Gefühlszustand einer anderen Person mitzuschwingen. Singer betont hier einen großen Unterschied zu Mitgefühl, mit dem ich innerlich mit einer intentionalen liebevollen Güte antworte. Während die Menschen im Mitgefühl Hirnareale für Liebe und Regeneration aktivieren, kann Empathie zum Ausbrennen führen. Hirnareale der Empathie unterscheiden sich von denen des Mitgefühls. Beides ist in gesunder Form wichtig.

Kognitive Perspektivübernahme:

Diese aktiviert wiederum andere Netzwerke im Gehirn. Sie befähigt dazu sich gedanklich differenziert in die Position des Gegenübers hineinzuversetzen. Je heterogener unsere Welt, desto wichtiger ist diese Fähigkeit. Sie versetzt mich in die Lage die Glaubenssysteme und Gedanken des anderen besser nachvollziehen zu können. Auf englisch gibt es dafür den prägnanten Begriff „Theory of mind“.

Vernetzung dieser Skills

Beispiele machen deutlich, wie wichtig die Verbindungen der jeweiligen Fähigkeiten sind und dass es sich lohnt, alle drei Fähigkeitsfelder mit zielgerichteten Übungen zu stärken.
So können Psychopathen sehr gut in kognitiver Perspektivübernahme sein, allerdings fühlen sie nichts und spüren weder Empathie noch Mitgefühl. So können sie gut und ohne schlechtes Gewissen manipulieren. Ein anderes Beispiel ist MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction). Das Programm arbeitet viel mit Achtsamkeitsübungen, ist allerdings gegen sozialen Stress nicht die effektivste Form des Trainings. Der Umgang mit Beziehungen und Begegnungen ist vor allem mit Empathie und Mitgefühl trainierbar, die sich nachweislich sehr positiv auf die Reduzierung von sozialem Stress auswirken.

Jeder dieser drei Schwerpunkte bringt unterschiedliche Übungen mit sich. So wurden bspw. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit mit Atemübungen und Body Scan geübt. Empathie und Mitgefühl wurden vor allem mit Partnerübungen trainiert, den Dyaden. Ich bin sehr beeindruckt von diesem klar differenzierten Trainingsplan und den sichtbaren Ergebnissen in den Hinstrukturen und Gefühlszustände der Probanden nach einigen Wochen der regelmäßigen Praxis.

Wenn wir nun wissenschaftlich fundierte Studien haben, was hindert das Bildungsministerium daran, mentales Training als Schulfach anzubieten? Warum ist mentales Training noch nicht in der Mitte der Wirtschaft angekommen? Was hindert unser Gesundheitssystem daran, an diesem Hebel deutlich hochzudrehen?

Mit einer regelmäßigen Praxis von 10 Minuten täglich lassen sich nicht nur wochenlange Ausfälle verhindern und viele Gelder für Pillen und therapeutische Behandlungen sparen. Die gesellschaftliche Transformation wäre deutlich realistischer und langfristig wären wir und unsere Welt gesünder.

Soziale Neurowissenschaften und die Wirtschaft

Die sozialen Neurowissenschaften sind für die Ökonomie sehr bereichernd. Singer versteht sich hier als Brückenbauerin. Im Kern unseres Wirtschaftssystems geht es um Kooperation zwischen Individuen. Wie treten wir in Beziehung? Als Nutzen maximierende Objekte oder als fühlende Menschen? Das Menschenbild, das hinter den neoklassizistischen Modellen steht, ist nach Singer total veraltet (Homo oeconomicus). Es hat mit der modernen Psychologie und den Neurowissenschaften nichts mehr zu tun. Interessanterweise lernt die Ökonomie Begriffe wie Empathie, Mitgefühl oder Perspektivübernahme gerade erst kennen. Leistung, Macht, das Höher, Schneller und Weiter haben immer noch höhere Prioritäten in Entscheidungsprozessen. Doch was macht das mit uns?

Wir brauchen Weltbürger, die ihre Verantwortung nicht nur denken, sondern auch fühlen können.
Hier liegen wir Menschen weit unter unserem Potenzial. Der Trend geht eher Richtung Vereinsamung, Depression und Narzissmus. So genannte „Soft Skills“ werden vor allem in Deutschland unterbewertet. Dabei sind diese Skills aus der Sicht der Hirnforschung nicht „weicher“ oder „härter“ als technisches Know-how, Handwerk, die Mathematik oder sämtliche andere Skills, die wir erlernen können.
Die Hirnforschung zeigt, dass wir unsere inneren Instrumente wie Empathie, Mitgefühl oder die Fähigkeit zum kognitiven Perspektivwechsel trainieren können wie Muskeln im Fitnessstudio.
Wir können auch als Erwachsene lernen mit Ungewissheit, Agilität, schwierigen Emotionen und Überforderung umzugehen. Wir können den crosskulturellen Dialog und kooperatives Denken, Fühlen und Handeln lernen. Wir haben da viel nachzuholen, wenn wir die Probleme unserer aktuellen Zeit als verantwortliche Weltbürger angehen möchten.

Mentales Training für Erwachsene

Tania Singer formuliert es ganz spitz: Für sie sind diese ursprünglichen „Soft Skills“ sogar Survival Skills. Ohne diese Skills kommen wir in unserer heutigen Zeit nicht mehr klar. Sie sagt sehr deutlich, dass sich die Medien in der Corona-Krise um Zahlen zu Inzidenzen, Neuinfektionen und infektionsbedingten Todesfällen drehen. Zahlen zu Vereinsamung, Depressionen, Angststörungen und weiteren psychischen Schwierigkeiten werden nicht kommuniziert und zu wenig in Entscheidungen einbezogen. Das ist repräsentativ zu allen möglichen Krisen unserer heutigen Zeit. Um nachhaltigere Entscheidungen treffen zu können, müssen wir unseren Blick um die inneren Dimensionen erweitern.

Trainingsmöglichkeiten gibt es, die Übungen sind bekannt, fähige Coaches stehen in den Startlöchern. Können wir starten?

Mentales Training in Schulen

Schule und Bildung beschäftigt mich vor allem wegen meiner Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter. Wie viele Eltern arbeite ich für die Wirtschaft und sehe zu wenig Bezug zwischen dem, was gebraucht wird und dem, was meine Kinder im Schulsystem lernen. Sehr zuversichtlich machte mich der kürzliche Online-Kongress der Pioneers of Education, wo Tania Singer auch mit am Start war.

Mir war nicht bewusst, dass die UNESCO bereits 1996 einen Weltaktionsplan für die Zukunft der Bildung entwarf. Zwei der vier Säulen nehmen die innere Dimension ganz explizit:

– Zusammenleben lernen, d.h. voneinander, miteinander

– Lernen zu sein, d.h. wer bin ich eigentlich, wofür bin ich da und was braucht die Welt von mir?

Die anderen beiden Säulen nehmen die Fähigkeiten des sozialen Gehirns implizit und damit immer noch deutlicher auf als die heutige Realität der staatlichen Schulen.

– Lernen Wissen zu erwerben, d.h. nicht auswendig lernen

– Lernen zu handeln, d.h. Ideen umzusetzen, Projekte durchzuführen

Der Aktionsplan ist 25 Jahre alt und ich merke wenig Effekt bei meinen Kindern und wie sie auf die Zukunft und die Transformation unserer Wirtschaft vorbereitet werden. Beim vierten Sustainable Development Goal (SDG) sehe ich die „Gefahr“, dass auch hier die inneren Dimensionen zu kurz kommen.

Die Gesprächspartnerin von Tania Singer, Margret Rasfeld von Schule im Aufbruch, plädiert dafür das Leben mit dem Lernen viel mehr zu verbinden. Für sie ist die Bildungslandschaft stark vernetzt mit vielen Lernorten und vielen Akteuren aus der Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft – einfach mitten im Leben. Kinder sollen nicht mehr verzweckt und zu Leistungsproduzenten erzogen werden. Die Lernprozesse unserer zukünftigen Generationen gehen uns alle etwas an, dafür tragen wir alle ein Stück Verantwortung.

Tania Singer fragte sich, warum mentales Training nicht schon lange zum Pflichtprogramm in Schulen und Bildungseinrichtungen für Erwachsene gehört. Aus ihrer Sicht ist mentale Gesundheit wichtiger als alles andere semantische Wissen, dass jeder nachschlagen kann. Mit einem regelmäßigen Training würde uns vieles leichter fallen: Emotionen erkennen und benennen, Selbstmitgefühl entfalten, wie kann ich mich beruhigen, wie kann ich den anderen besser verstehen, etc. Wenn jemand aggressiv, aufgewühlt, depressiv oder traurig ist, dann geht auch kein Lernen und keine Potenzialentfaltung. Mentale Skills befähigen uns dazu uns zu regulieren. Diese mentalen Skills können wir ein Leben lang gut gebrauchen. Das ganze Material ist bereit, es muss noch nicht mal neu erfunden werden. In Deutschland sind wir da teilweise weit hinter anderen Ländern zurück. Diese innere Arbeit als Esoterik abzustempeln ist offensichtlich nicht mehr zeitgemäß.

Fazit

Es gibt viel zu tun. Die inneren Dimensionen müssen in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen angemessenen Raum bekommen. Das hat Singer eindrücklich erforscht und aufgezeigt. Was wäre wenn wir bereits in Schulen unser soziales Gehirn ausbilden könnten und wir uns achtsamer, mitfühlender und gefühlt verantwortungsvoller füreinander einsetzen würden? Wenn wir Erwachsenen flächendeckend den Zugang zu Trainings des sozialen Gehirns bereit stellen würden? Wie viele Kriege wären dann obsolet? Wie viele Krisen würden wir anders angehen?

Ich freue mich über Rückmeldungen zu Initiativen, die dieses Know-how noch besser in Wirtschaft und Bildung verankern. Sehr gerne stelle ich mich als Begleiterin von Veränderungsprozessen und mit meinem Know-how zu den inneren Dimensionen zur Verfügung. Die Perspektive einer sozial intelligenteren und mitfühlenderen Gesellschaft inspiriert und motiviert mich sehr.

Weitergehende Infos

Tanja Singer: Die Neurobiologie von Empathie und Mitgefühl

Podcast tabula rasa – Tania Singer: Kann man Menschen Mitgefühl beibringen?

Pioneers of Education

Danke an Barbara Schneider für das Visual Recording der Session mit den Pioneers of Education.

1 Gedanken zu “Wie wir unser soziales Gehirn trainieren können und warum das für Bildung und Wirtschaft so wichtig ist.

  1. Mathilda Reichmuth

    Interessante Erkenntnis, Fast Alles ist eine Frage der Einstellung zu einer Sache und auch eine Frage des Egos und der Bildung des Charakters der Verantwortung und des Bewusstseins allgemein.Mittel-alterliche Zustände werden dann nach und nach verschwinden in allen Schichten und Branchen

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