Ohne Ablenkung: Was die Stille mir sagt

Im Januar 2006 meditierte ich zum ersten Mal 10 Tage in einem Retreat. Seit dem organisiere ich mir diese klösterliche Zeit immer mal wieder. 10 Tage ohne Kommunikation, ohne Handy, ohne Laptop, ohne jegliche Ablenkung von mir selbst.

Das Retreat ermöglicht mir ein Setting, das ansonsten für mich absolut unrealistisch ist. Ich muss mich um nichts kümmern, nicht einkaufen, nicht kochen, nicht arbeiten, nicht für die Kinder da sein, etc. Ich bin 9 von 10 Tage ohne Kommunikation. Das Handy habe ich abgegeben, den Laptop gar nicht dabei. Jeder Mitmeditierende hat das gleiche Versprechen abgegeben: keine Gespräche untereinander. Ein bedingungsloses bei-sich-sein. Heutzutage ist diese auf sich selbst gerichtete Zeit etwas sehr Besonderes. Durch die ständigen Ablenkungen reagieren wir meistens auf Impulse von außen: Handynachrichten, e-Mails, Werbung, Verpflichtungen gegenüber unseren Kindern, KollegInnen und anderen Menschen. Ständig lassen wir uns von uns selbst ablenken. Im Retreat ist all das weg. Wer bin ich, wenn all die Ablenkungen auf einmal nicht mehr da sind?

Über einen Freund bin ich auf die Vipassana-Technik nach S.N. Goenka gestoßen. Die Retreats werden weltweit angeboten. Menschen aller möglichen Glaubensrichtungen meditieren hier gemeinsam. Wer mehr zur Technik erfahren möchte, kann auch gerne einen älteren Artikel von mir bei editionF durchlesen.

Sehr interessant finde ich die Entwicklung der Reaktionen auf meine Retreats. In 2006 fanden das noch viele „verrückt“ und in meinem Umfeld wollte kaum jemand hören, was ich eigentlich im Retreat so mache, wenn ich „nichts“ mache. Jetzt werden zunehmend mehr Menschen wirklich neugierig, wenn ich andeute, dass ich mich gerne mal in klösterliche Verhältnisse begebe. Hier möchte ich zusammenfassen, was mich das Meditieren im Retreat und zu Hause gelehrt hat. Dabei geht es für mich um die Erfahrungsebene. Natürlich kann ich einen bestimmten Weg theoretisch erlernen und rational verstehen. Doch die Erfahrungsebene ist unersetzlich. Ich möchte hier Mut machen, eigene Erfahrungen zu machen und auf einen ganz eigenen Weg zu gehen.

Alles ist immer Veränderung

Die ersten drei Tage konzentrieren wir uns auf den Atem, wie er ist. Weitere 7 Tage praktizieren wir den BodyScan. Wir gehen mit unserer Aufmerksamkeit durch den Körper, immer und immer wieder, über 10 Stunden am Tag. Und mir wird nie langweilig! Jeder Moment fühlt sich anders an. Jede Sekunde verändern sich mein Körper, meine Gedanken, meine Gefühle, ständig bin ich im Fluss und verfolge direkt mit, wie ich mich verändere. Das Grobstoffliche scheint gar nicht mehr so fest zu sein. Alles ist ständig in Bewegung und fließt und fließt. Ich bin Veränderung. Ich bin im ständigen Werden. Mein Geist versucht immer wieder Gedanken, Gefühle und Empfindungen loszuwerden oder festzuhalten. Meine Aufgabe ist im wahrnehmenden Zustand zu bleiben: im Hier und Jetzt, ohne Anhaften und Abstoßen, einfach Veränderung sein, die fließen darf. Das ist der gesündeste und natürlichste Zustand, in dem wir sein können. Ich erfahre hier durchaus einen heilenden Effekt.

Vertrauen ins Leben gewinnen

Ist egal wo ich bin, ich nehme mich immer mit. Wie ich mich selbst anfühle, bekannte Gedanken, bekannte Emotionen und Reaktionen. Im Alltag hinterfrage ich das oft gar nicht so sehr. Doch im Retreat schaue ich dahinter. Hinter den mir so vertrauten Denk- und Gefühlsmustern ist ein großer weiter Raum an Alternativen. Dieser Möglichkeitsraum zeigt mir, wie das Leben auch anders sein kann. In diesem Raum spüre ich Leere und Fülle zugleich. Eine Nicht-sein von Müssen und Mustern, ein voll-sein an Möglichkeiten. Und vor allem eines: Liebe als natürlicher Zustand, ein bedingungsloses Vertrauen ins und Freude übers Leben.

Aus der Zukunft heraus leben

Meine gewohnten Glaubenssätze und Reaktionsmuster sind im Alltag wie eine Brille, die meinen Blick auf die Außenwelt einfärbt.
Wenn ich drinnen „aufräume“ und „sauber mache“, dann verändert sich meine Wahrnehmung der Außenwelt. Das wiederum ist nicht zu unterschätzen: durch eine andere Wahrnehmung handele ich anders, entscheide ich anders, reagiere ich anders… Dadurch bewirke ich Dinge, die sonst nicht passieren würden und mein Leben nimmt einen anderen Lauf. Entscheidungen sind weniger stark durch die Vergangenheit beeinflusst. Je klarer ich innerlich bin, desto weniger bin ich mit mir und meinen eigenen Dramen beschäftigt. Desto mehr kann ich der Zukunft zuhören und meinen Beitrag dort leisten, wo er am meisten gebraucht wird.

Die Ruhe/ den Urlaub trage ich immer bei mir

Diese Stille – der wahrnehmende Zustand – ist immer da. Jederzeit kann ich zu ihr zurück. Mit etwas Übung sogar auch mal nur kurz für eine Minute zum Schnell-auftanken im Alltagstrubel als dreifache berufstätige Mutter. Das Wissen um diese immer-präsente Stille ist für mich die stärkste Kraftquelle, die ich kenne.

Verantwortung übernehmen

Wenn ich bis in meine Zellen herein gespürt habe, wieviel ich von dem selbst gestalte, was mir passiert, dann übernehme ich zu 100 % Verantwortung für mich selbst. Nicht die anderen sind schuld an meinen Umständen. Natürlich gibt es vieles, was auf dem ersten Blick keinen Sinn macht und schrecklich ist. Doch ich kann immer entscheiden, wie ich auf das reagiere, was passiert. Wie der ehemalige KZ-Häftling und Arzt Viktor Frankl sagte: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“

Gesellschaftlichen Wandel mitgestalten

Das beobachte ich auch an so vielen anderen Menschen, die ihren Weg der Selbsterkenntnis gehen. Wir verstehen, wie wenig wir eigentlich vom Außen benötigen, um glücklich und gesund zu sein. Mein Konsumverhalten verändert sich mit. Durch die Erfahrung der Verbundenheit mit der Welt kann ich vieles nicht mehr vertreten: Gesundheit und Ernährung, ökologische und soziale Fragen, Marktwirtschaft, Bildung. In vielen Feldern handeln wir als Gesellschaft anders, als es sich in unserem Inneren als „richtig“ anfühlt. Äußerer Wandel folgt auf Inneren Wandel. Ich bin relativ optimistisch. Die Mainstream-Medien zeigen uns täglich eine andere Welt als die, die wir sehen, wenn wir uns gezielter Informationen beschaffen. Je mehr Menschen Kontakt zu sich selbst (wieder)finden, reflektieren, hinterfragen, desto mehr Potenzial für Wandel können wir ausschöpfen und am Ende doch noch die Welt retten.

Dankbarkeit erleben

Keine Generation vor uns hatte so viel Freiheiten und Möglichkeiten des inneren Wachstums. Wir werden nicht mehr in enge Glaubensrichtungen und Überzeugungskisten hereingepresst. Wir dürfen uns als Wahrnehmende wahrnehmen, hinterfragen und das loslassen, was keinen Sinn mehr macht. Wir müssen nicht funktionieren und uns durch das anstrengende Leben durchbeißen. Wir dürfen an uns arbeiten, der Zukunft zuhören und uns bewusst dem in den Dienst stellen, was hier, heute und jetzt dran ist.