Reflexion Online-Kongress „Mensch und Organisation in Krisenzeiten“ – Menschlichkeit als Erfolgsfaktor oder bloße Sozialromantik?

Am 19. März startet der Online-Kongress „Mensch und Organisation in Krisenzeiten“. Ich schreibe diesen Artikel vorab, da ich im Rahmen meiner Arbeit für das Lighthouse Lab bereits alle Interviews angeschaut habe. Die Frage im Untertitel lautet „Menschlichkeit als Erfolgsfaktor oder bloße Sozialromantik?“

In vielen Arbeitsumgebungen gilt es heute immer noch als „naiv“ den Menschen zu sehr in den Vordergrund zu stellen, vor allem vor die Maximierung von Gewinnen. Dass dieses gewinnfokussierte Denken Teil des Problems ist, zeigt mir der Kongress aus den unterschiedlichsten Perspektiven. 

Die Sprecher:innen im Kongress und auch der Interviewer Michael Knauf zeigen mit Beispielen, Geschichten und Erfahrungen, wie Menschen und Organisationen auf ein anderes Level kommen können. Geld und Gewinne kommen zurück an ihren Platz als Mittel statt als Zweck. Die Gesundheit von uns Menschen in Verbindung mit uns selbst, den Mitmenschen und der Natur mit allem, was dazu gehört, rutscht zurück in den Fokus.

Sozialromantik?

Ob die Weitung des Blicks über die Gewinne hinaus nicht naiv sei? Hierzu gibt es im Kongress viele Antworten. Grundtenor ist: ohne Menschlichkeit sind die Unternehmen und unsere Wirtschaft nicht langfristig gesund. Unser System ist in vielen Teilen unmenschlich und zu viele Menschen brennen regelrecht aus. Ein maschinelles Funktionieren geht für lebendige Systeme nicht gut. 

Viele Sprecher:innen teilen die Erfahrung, dass ein Fokus auf finanzielle Gewinne in vielerlei Hinsicht den Fokus verengt, den Möglichkeitsraum verkleinert und sich kontraproduktiv auf die Unternehmensentwicklung auszahlt.

Manche Unternehmen im Kongress stellen ihre kurzfristige Gewinnerzielungsabsicht klar hinter ihre menschlich orientierten Werte. So hat bspw. Sonett seine Preise trotz massiver Kostensteigerung während der Pandemie nicht erhöht, um seinen Kund:innen treu zu bleiben und diese zu unterstützen. Sie glauben fest an die Nachhaltigkeit dieser Strategie. Andersherum wurden sie aufgrund ihrer Treue bei Lieferengpässen von Lieferanten bevorzugt.

Bianca Lammers von der Otto Group – ein Unternehmen an der Börse – fühlt sich von den Aktionären unterstützt und motiviert. Sie sehen, dass der Kulturwandelprozess dem Unternehmen gut tut und stehen unterstützend dahinter. 

Detlef Lohmann von Allsafe beeindruckt durch sehr geradlinige Standpunkte. Für ihn geht es um die Sicherstellung der gemeinsamen Leistungserbringung. Die Lebendigkeit des Unternehmens steht für ihn im Fokus. Das geht mit Egoismus nicht. Er beschreibt äußerst undogmatisch, wie er „mit gesundem Menschenverstand“ Vertrauensvorschuss austeilt und die Gemeinschaft im Dienste der Leistungsfähigkeit der Organisation ausrichtet. Die Gemeinwohlorientierung wird auch von Unternehmer Uwe Lübbermann (Premium Kollektiv) ähnlich undogmatisch und eindrücklich beschrieben. 

Auf die Spitze treiben es dann Nadine Stalpes und Timo Wans, die mit Myzelium Projekte nach Prinzipien des gemeinschaftsbasiertes Wirtschaftens hochziehen. 

Menschlichkeit kann auch unromantisch sein

Von der Ausgangsfrage der Sozialromantik kommend, beschreiben Oliver Groß und Andreas Roth von Sonett, dass deren Art und Weise zu arbeiten sogar manchmal äußerst unromantisch sei. Das direkte Ansprechen und Verarbeiten von Konflikten ist sicher der unbequemere Weg, weitet jedoch den Handlungsspielraum nachhaltig und dauerhaft. Worum geht es also bei der „Menschlichkeit“?

Zwei Grundbedürfnisse 

Mehrere Sprecher:innen benennen die zwei Grundbedürfnisse von uns Menschen, die in allen Überlegungen zu Kultur- und Organisationsentwicklung integriert sein müssten. Es geht um Autonomie/ Mitgestaltung/ Wachstum auf der einen Seite und Verbundenheit/ Zugehörigkeit auf der anderen Seite.

Sebastian Purps-Pardigol beschreibt das in seinem Interview wunderbar aus neuobiologischer Sicht: In Phasen der Unsicherheit beruhigt es mitgestalten zu können. Dann reduzieren sich körperliche Stressreaktionen messbar. Durch das eigene Mitgestalten bedeuten uns die entstehenden Prozesse mehr. Emotionale Zentren werden aktiviert, die uns den optimalen Zugriff auf unsere kognitiven Fähigkeiten geben. Wenn Menschen miteinander gestalten, stärkt das die Gemeinschaft. Das kommt wiederum dem Grundbedürfnis von Verbundenheit entgegen, weshalb die Menschen noch mehr bereit sind sich zu engagieren. 

Bedeutung der Gesundheit

Das Decken der zwei genannten Grundbedürfnisse haben eine direkte Auswirkung auf die Kohärenz in Hirn und Körper mit allen neurobiologischen Implikationen.  Eine hohe Kohärenz ermöglicht einen optimalen Zugriff auf unsere kognitiven und kreativen Fähigkeiten. Sie macht nachhaltig gesund.

Prof. Dr. Tobias Esch geht unter anderem sehr weitreichend auf den Gesundheitsbegriff ein. Er ergänzt die bio-psycho-soziale Gesundheitsdefinition der WHO mit weiteren Dimensionen der Gesundheit. So macht es uns Menschen auf Dauer krank, wenn wir keine Antworten auf Sinn gebende Fragen haben: Wofür stehe ich morgens auf? Wofür gehe ich arbeiten? Auch kulturelle Fragen brauchen ihre Antworten: Bin ich in meinem Leben zu Hause? Lebe ich das richtige Leben?

Durch die Benennung zusätzlicher Dimensionen für Gesundheit können wir damit individuell und in Organisationen arbeiten anstatt sie zu übersehen. Denn eines liegt auf der Hand: Gesunde Menschen im allumfassenden Sinne können eher eine zukunftsfähige Gesellschaft gestalten als kranke Menschen mit ihren Einschränkungen.

Bedeutung von Wohlstand

Vivian Dittmar ergänzt sich wunderbar mit den erweiterten Gesundheitsbegriffen. Sie überträgt zusätzliche Dimensionen auf den Wohlstandsbegriff. Durch das Benennen von Wohlstandsarten über den finanziell-materiellen Wohlstand hinaus können wir unseren Blick weiten und unsere Prioritäten für das Leben als Menschen und Organisationen anpassen. Sie spricht vom Wohlstand Zeit zu haben, vom Wohlstand Beziehungen zu pflegen, vom Wohlstand kreativ sein zu können sowie vom spirituellen und ökologischen Wohlstand. Wie geht es uns Menschen in einem Leben, das reich an Verbindung mit uns selbst, unserem Lebenssinn, unserer Lebenszeit, den Mitmenschen, der Natur und der eigenen Schöpferkraft ist? Natürlich schwingt die Kritik an unserem konsumgesteuerten Wirtschaftssystem mit. Prof. Dr. Gerald Hüther zeigt eindrücklich, wie dieses Wirtschaftssystem in die Bildung und unsere Organisationen einwirkt. Mehrere Systemfehler stellen uns vor komplexe Probleme.

Bedeutung der Innenwelt

Diese Themen legen nahe, dass wir mit den äußeren Dimensionen von Strukturen und Prozessen in der Organisationsentwicklung zwar wichtige Errungenschaften haben. Wir werden unsere Probleme der heutigen Zeit jedoch nicht lösen können, wenn wir die inneren Dimensionen weiter ausblenden. Für die Integration dieser Dimensionen gibt es zahlreiche Modelle und Ansätze. Der Begriff „Innere Arbeit“ ist vielen Beteiligten in der Wirtschaftswelt ein Dorn im Auge. „Zu esoterisch“ oder eben „sozialromantisch“. Einige Sprecher:innen beschreiben, wie sie die skeptischen Führungskräfte anschlussfähig abholen, wenn es um „Innere Arbeit“ geht. Vivian Dittmar nimmt den Weg über die Ratio und erklärt erst mal die Existenz von Emotionen, warum und wie wir mit ihnen arbeiten müssen. Sebastian Purps-Pardigol spricht nie von innerer Arbeit und nimmt den Weg über die Neurowissenschaft, um Führungskräfte in Kontakt mit sich selbst zu bringen. 

Übrigens geht diese Art der Arbeit über die innere Haltung hinaus. Wir können die beste innere Haltung vertreten und trotzdem nach einem Trigger zerstörerisch ausrasten. Dann zählt die Arbeit mit der inneren Verfasstheit, mit unseren Zuständen, die sich dutzende Male am Tag verändern können. Ein Experte für diese physiologisch-messbaren Zustände ist Sprecher Stephen Porges.

Es ist vor diesem Hintergrund wenig wirksam jahrelang auf dem Meditationskissen zu sitzen. Die Sprecher:innen von Sonett machen sehr anschaulich, wie die innere Arbeit in den Arbeitsalltag einfließt und sie als professionelle Partner aneinander wachsen. Die Präsenz und Wirkkraft der inneren Dimensionen – individuell und kollektiv – ist ein Schlüssel für Wandel und Innovation.

Transformationsbegriff

Stefan Bauer von Eli Lilly macht innere Arbeit – privat und bei seinem Arbeitgeber. Für ihn ist die Reflexion – der Schritt nach hinten – wertvoller als die oft übereilten Schritte nach vorne. Reflexion und innere Arbeit können die Schlüssel zur Transformation sein. Transformation passiert dann, wenn sich der Kontext verändert. Dies kann bspw. geschehen, wenn zu einer äußeren Dimension noch eine innere Dimension dazu kommt und sich dadurch das eigene Denken ändert. 

Dr. Markus Strobel und Thomas Strauß von der IMU Augsburg stellen fest, dass viele Organisationen Projekte auf falschen Leveln durchführen und dies zu einem unglaublichen Verschleiß führt. Eine „vertikale Transformation“ verändert das vorherrschende Welt- und Menschenbild in der Organisation. Reine Fachprojekte verändern dagegen nicht den Kontext. Auch Change-Projekte verändern vielleicht Prozesse und Strukturen und können die inneren Dimensionen einbeziehen. Doch solange sie nicht das dahinter liegende Weltbild berühren, werden sie die Organisation nicht aufs nächste Level bringen.

Kulturwandel angehen

Bianca Lammers beschreibt sehr anschaulich, wie sie eine „vertikale Transformation“ in der Otto Group angegangen sind. Die klassischen Tools der BWL – analysieren, ableiten, planen – mussten dafür auf die Seite gelegt werden. Der Wandel gelang über die kleinen Schritte der Impulse, die in die Organisation gegeben wurden und aus denen jeweils etwas entstand. Wie andere Sprecher:innen auch hebt sie die Bedeutung von den 10-15% der Belegschaft hervor, die richtig Lust haben dem Wandel am Anfang einen Schub zu geben. 

Zum Vergrößern der Initiative hat Bianca Lammers mit ihren Kolleg:innen gelernt auf den unterschiedlichen inneren und äußeren Ebenen zuzuhören und gemeinsam die nächsten Schritte abzuleiten. Die Ereignisse, die den Prozess im Rückblick so erfolgreich machen, konnten im Vorhinein keinesfalls geplant werden. Dieses spezielle Zuhören erfordert das Aktivieren von echter Neugierde, Mitgefühl und Vertrauen. 

Das Neue durchschimmern sehen

Christine Wank vom Generative Facilition Institute ist wohl eine der Expertinnen für den Aufbau der inneren Zuhör-Instrumente. Sie sind der Schlüssel für vieles, was Neues entstehen kann. Sie redet von Kairos – dem günstigen Zeitpunkt oder der guten Gelegenheit. Unser lineares Denken und unser chronologisches Zeitverständnis hindern uns manchmal daran das Neue zu erkennen, das jetzt im Moment schon durchschimmert. 

Holger Scholz von den Kommunikationslotsen macht auf den weichen sanften Blick aufmerksam, der oft zieldienlicher ist, um das Neue zu erkennen, zu benennen und zu stärken. Was kann daraus entstehen? Nicht irgendwann irgendwo, sondern jetzt und hier? Die Weitung der Wahrnehmung kann sowohl individuell als auch kollektiv geübt werden.

Die Realität sehen wie sie ist 

Eine innere neugierige Einstellung und ein gutes Zuhören lädt dazu ein, weniger auszublenden und sich mehr im Moment bewusst zu machen. Das Ausblenden ist oft nicht nur auf Bequemlichkeit zurückzuführen, sondern hat seinen Ursprung in tiefer liegenden inneren Prozessen. Thomas Hübl erläutert die Bedeutung von Trauma, die auch kollektiv wirken. Wir können durch die innere Arbeit lernen, weniger auszublenden, mehr zu re-integrieren, mehr wahrzunehmen, uns mehr bewusst zu machen, zu erkennen und zu benennen. Die Bedeutung der Bewusstseinsentwicklung wird in vielen Gesprächen betont.

Transformation über das Erkennen und Benennen von Grundannahmen

Die transformative Wirkung durch die Veränderung des Menschenbilds wird bei den Kommunikationslotsen anschaulich klar. „Bedeutung liegt nicht in den Dingen wie der Keks in der Schachtel,“ sagt Roswitha Vesper. Wir können lernen, den Dingen stärkende Bedeutungen zu geben.

„Jeder tut sein Bestes immer,“ ist eine Annahme, die Holger Scholz beim Deuten nutzt. Die Annahme löst los von Schuldzuweisungen und blockierenden Konflikten. Dadurch öffnen sich konstruktive Lösungen. Mit Grundannahmen können wir uns selbst „ertappen“. Im Erkennen und Benennen beginnen wir mit ihnen zu arbeiten und zieldienlich anzupassen.

Ko-Kreation ersetzt Führung

Eine weitere starke Grundannahme: „Ko-Kreation ersetzt Führung.“

Wir müssen nicht alles alleine wissen oder tun. Claudine Nierth von „Mehr Demokratie“ fragt sich, was passiert wäre, wenn der Gesundheitsminister uns alle zu seinen Mitarbeiter:innen gemacht hätte anstatt den Anspruch zu haben alles besser zu wissen. Mit dem Bürgerrat hat sie es geschafft, sehr viele sehr unterschiedliche Menschen miteinander arbeiten zu lassen. Die Spaltung der Gesellschaft ist nicht das Problem, sagt sie. Die Frage ist nur, wie wir die Spaltung halten und mit ihr umgehen. 

Facilitatives Führen

Ines Sterling beschreibt anschaulich, wie sie sich um ihre Mitarbeiter:innen kümmert. Als Führungskraft sieht sie es als ihre Hauptaufgabe sich darum zu kümmern, dass es ihr und ihren Mitarbeitern:innen gut geht. Sie stellt sich explizit in den Dienst ihrer Mitarbeiter:innen, um diese in ihrer Autonomie und ihrem Wachstum zu stärken. 

Holger Scholz spricht vom „Facilitative Leadership“: Die Führungskraft begleitet, ermöglicht, erleichtert Prozesse, um die besten Rahmenbedingungen dafür zu bieten, dass sich die Mitarbeitenden selbst entfalten können und ihre Talente zum Ausdruck bringen.

Dr. Michael Dumpert und Gerd Sunder-Plassmann von der Naturtalent Stiftung beschreiben ihre konkrete Arbeit mit dem Gallup Strenghtfinder, unter anderem bei der Spardabank München. Sie zeigen, wie es hilft sich selbst besser zu erkennen und den eigenen Platz in der Organisation zu finden. Die Unterstützung der Führungskraft als „Rahmengeber:in“ ist wesentlich, damit das Tool nachhaltig in der Organisation wirken kann.

Bedeutung von Sprache

Auch bei Nicole Kobjoll vom Schindlerhof kommt es wunderbar rüber, wie sie sich um Ihre Mitarbeitenden kümmert. Wobei sie nicht von Mitarbeitenden spricht, sondern von Mitunternehmer:innen. So betont und respektiert sie die Autonomie der Menschen, die im Schindlerhof arbeiten. Mit dem Wort „Human Resources“ hat sie noch nie gearbeitet, bei ihr sind die Menschen die „Human Stars“ – und das ziemlich wortwörtlich. Einen anderen Impuls zur Nutzung von Sprache gibt Dr. Oliver Haas von Corporate Happiness. Was ändert es, wenn wir nicht mehr von „Recruiting“ sprechen, sondern von „Inviting“? Iniviting drückt eine Haltung aus und vermittelt Neugier für diejenigen, die sich für mein Unternehmen interessieren.

Fazit – Vom Ich zum Wir gemeinsam durch die Krisen

Der Kongress hält das ein oder andere Hirnstretching bereit und schenkt uns eine Unmenge von Denk- und Handlungsimpulsen. Michael Knauf und Dirk Kracker als Initiatoren wollten „das Wissen in die Welt bringen, dass es noch so viel mehr Möglichkeiten gibt.“ Der Kongress kann Führungskräften, Facilitator:innen und Angestellten neue Wege aufzeigen, um uns Menschen durch die aktuellen und noch anstehenden Krisen gut und gesund zu begleiten. 

Ich bin sicher, jede:r nimmt eigene und auch viele andere Dinge aus dem Kongress. Dieser Artikel ist bei weitem nicht erschöpfend. Meine Erkenntnisse werden sich sicher auch noch anreichern, sobald der Kongress gestartet ist und die einzelnen Interviews in den Social Media kommentiert, rezensiert, kritisiert und diskutiert werden. 

Bis dahin kann jede:r noch dabei unterstützen den Kongress bekannter zu machen, damit dieser auch wirklich alle Menschen erreicht, die ihn hilfreich finden würden.

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