Creating Organization – Wenn wir Leadership und Leben als einen kreativen Prozess erkennen. Ein Dialog mit R. David Cummins.

David ist einfach ein interessanter Typ. Als Fiction-Autor lese ich in seinem Amazon-Autorenprofil: „Languages, stories, programming, creating, topics that have been part of Davids life since childhood.“ Als US-Amerikaner hat er ein Studium der Literatur in Göttingen begonnen und ist von dort aus gleich als Software-Entwickler in den Markt, lebt heute in der Wahlheimat Hamburg und wirkt in verschiedenen Rollen: als Mit-Geschäftsführer der Ministry Group, als Co-Initiator der Hacker School, als Fiction- und New Work-Autor, als Partner im Impeccable Leadership Team und als Initiator diverser ko-kreativer Formate wie die Coffee-Break oder die New Work Future Konferenz. Ich sehe in ihm vor allem einen zutiefst kreativen und inspirierten Menschen. Das open mind ist auch das, was mir zuerst auffällt, als ich ihn zu einem Dialog einlade. „Keine Ahnung, was auf mich zukommt, aber ich bin neugierig,“ sagt er.

Wir lernten uns im gemeinsamen Curriculum am Generative Facilitation Institute in Berlin kennen. Uns verbindet die Lust am experimentieren und erkunden von Zukunftspotenzialen in sozialen Systemen – sowie am schreiben. Irgendwann im Austausch kam die Idee einer gemeinsamen Veröffentlichung. Wir verabredeten uns zu einem Dialog, um noch tiefer zu erkunden, wie wir da zusammenkommen könnten. In diesem Beitrag reflektiere ich diesen Dialog. David und ich schicken ihn raus in die Welt und freuen uns auf Resonanzen, welche uns für gemeinsame Veröffentlichungen inspirieren könnten. Die „Creating Organization“ ist dabei ein gemeinsamer Startpunkt.

Was bedeutet für uns „creating“?

Das Wort „creating“ öffnet für mich per se schon alle Türen. David als Native Speaker nutzt es immer in englischer Form, auch wenn er deutsch redet. Doch wie übersetze ich das eigentlich? Erschaffend, erneuernd, erzeugend, anstiftend, anregend, erweckend, erstellend, entwerfend, produzierend, bildend… Ich schaute tatsächlich für dieses mir so vertraute englische Wort im Lexikon nach. Eine feine Note scheint mir in all den Übersetzungsvorschlägen zu fehlen. Ich vermisse das Wort „schöpferisch sein“ oder „schöpfen“ oder „aus dem Potenzial schöpfen“. Damit assoziiere ich vor allem das inspirierte Wirken, ein feines Zuhören der Zukunft, die durch uns in die Welt kommen möchte. Damit sind wir schnell im Feld der generativen Arbeit, deren Kern es ist, sich aus dem Potenzial oder aus der Zukunft heraus inspirieren zu lassen. Diese Art der Arbeit kann alles inspirieren. Das muss nicht explizit Leadership, Coaching oder Prozessbegleitung sein. Wir kommen hier zu einer bestimmten Art an innerer Verfassung, eines Zustands, in den ich mich auch beim Homeschooling mit meinem Erstklässler oder beim Blumen gießen hineinversetzen kann.

So hatte ich bisher mit dem Begriff „Creating Organization“ die Assoziation für ein soziales System mit einer kreativen/ generativen Grundhaltung: Die Menschen sind inspiriert und von innen motiviert. Sie wirken und arbeiten in Rahmenbedingungen und Prozessen, die sie darin unterstützen, kreativ sein zu können: schöpferisch, von Potenzialen inspiriert, verbunden und committed. Mit David tauchte ich noch tiefer in die Creating Organization ein.

Davids Hintergrund

David mit seinem bunten Hintergrund experimentiert schon seit Jahren im eigenen Unternehmen und bei Kunden mit Mindset-Arbeit, Modellen und Methoden rund ums „creating“. In diesem Prozess verfeinerte er seine „Landkarte“ einer Creating Organization.

Sein Menschenbild beruht auf der Theory Y nach Douglas McGregor. Danach ist der Mensch nicht unwillig und braucht Belohnung oder Bestrafung als Verhaltensverstärker (Theory X). Mit geeigneten Rahmenbedingungen strebt er in der Theory Y nach Selbstverwirklichung, übernimmt Verantwortung und entwickelt Eigeninitiative. Außerdem studiert David seit Jahren das Systems Thinking (z.B. Peter Senge), den Flow nach Mihaly Csikszentmihalyi, das Growth Mindset (z.B. Carol Dweck) und diverse Schulen für Persönlichkeitsentwicklung (z.B. Robert Fritz, Gerald Hüther). Als Geschäftsführer eines Software Unternehmens hat er natürlich die agilen Herangehensweisen mit Scrum und Co verinnerlicht.

Der kreative Spannungsbogen

Nach David produziert die Creating Organization stetig Wert. Diesen Wert aktualisiert und erneuert sie laufend. Sie erfindet sich dabei immer wieder neu und schafft nicht nur Wert für Kunden und Mitarbeiter, sondern auch für die Gesellschaft und die Welt. Sie richtet sich nach einer „Shared Vision“ aus. Dieser Begriff drückt für mich den tiefen Respekt vor dem Individuum aus. Jeder Mensch hat seine eigene Essenz und eine eigene Vision. Diese kann nicht auf andere übertragen werden. Wohl aber kann sie geteilt werden. So versammeln sich in einer Organisation die Menschen, die ihre eigene Vision gut mit der Organisationsvision verbinden können.
Die Shared Vision ist eine Intention, eine Ausrichtung. Die Organisation befindet sich (noch) woanders. Nach David ist es eine große Aufgabe zu erkennen, wo die Organisation steht. Also wo sie wirklich wirklich steht. So kann sie vielleicht behaupten und sogar glauben, dass sie einen gesellschaftlich sinnvollen Unternehmenszweck verfolgt. Doch das Verhalten der einzelnen Akteure zeigt etwas anderes, z.B. Gewinnmaximierung und Konkurrenzdenken. So ist das Beobachten dessen, was da ist und wirkt, eine anspruchsvolle Aufgabe. Diese wird jedoch belohnt. Denn die Organisation, die weiß wo sie steht und wo nicht, kann besser erkennen, was jeweils der nächste Schritt ist. Übrigens ist diese Art der Arbeit individuell auch gut möglich. Der wesentliche Vorteil dieser Arbeit in der Gruppe besteht jedoch aus den vielen verschiedenen Perspektiven der Individuen im System, die zusammen gebracht ein umfassenderes und wahrhaftigeres Bild der Realität entwerfen können.
Zwischen der Shared Vision und der geteilten Wahrnehmung der Realität entsteht dann der kreative Spannungsbogen. Dieser ist eben kein fester Meilensteinplan, sondern eher wie eine Kraft und Inspirationsquelle für die jeweils nächsten sinnvollen Schritte.

Ich konnte im Dialog sehr spürbar erleben, wie sehr David die Arbeit mit dem kreativen Spannungsbogen verinnerlicht hat. Seine Landkarte ist umfassend und immer noch Work in Progress. Er zögerte auch nicht zu teilen, wo er auch wie schon gescheitert war. Er kennt die wirtschaftlichen Herausforderungen auch ohne Corona-Krise und hat den Respekt vor Transformationsprozessen erlebbar verinnerlicht. Das macht ihn für mich sehr nahbar und authentisch.

Zeitverständnis im Spannungsbogen

Ich ließ das Gesagte wirken. Dabei reflektierte ich meine eigenen Erfahrungen mit Visionsarbeit – meiner eigenen und mit Kunden im Coaching. Für mich ist es essenziell erlebbar zu machen, dass die Vision nicht irgendwo in der Zukunft ist und wir uns heute hier weit weg davon vor einem langen Weg befinden. Das ist zu linear gedacht. Die Vision existiert schon jetzt in Form von Zukunftspotenzial. Dabei ist die Arbeit mit Emotionen grundlegend. Eine Vision gewinnt dann an Zugkraft, wenn ich weiß, wie ich mich fühlen will. Diese Gefühle kenne ich schon heute, hier und jetzt. Ich kann sie in mir aktivieren und mich jetzt im Moment gefühlsmäßig in den Zustand bringen, den ich mir für meine Vision vorstelle. Damit kann ich meine Ausführung vom Anfang des Beitrags aufgreifen. „Creating“ ist dann mehr ein innerer Zustand als eine Theorie oder ein Tool. In diesem Zustand lebe ich bereits jetzt generativ, kreativ, creating. Ich lebe meine Vision schon heute, im kreativen Spannungsbogen. Die Ergebnisse meines Wirkens verändern sich, wenn ich mich aktiv mit dieser inneren kreativen Verfassung und dem Spannungsbogen befasse. So sehe ich in der ganzen Arbeit von David eine praktische „Anleitung“, wie diese Art der inneren Arbeit noch feiner und wertschöpfender in das Leadership und die Organisationsentwicklung eingewebt werden kann.

Wir sind so viel mehr

Ein Moment im Dialog bleibt mir noch sehr lebhaft in Erinnerung. Als ich David fragte, was denn durch ihn und seine Arbeit in die Welt kommen möchte, lächelte er wissend und geheimnisvoll. Seine Augen strahlten. „Wir sind so viel mehr,“ sagte er. Der Satz kam für mich mit einer sanften Wucht. Ich bekam eine Ahnung von Davids Grundannahme für den Menschen und unsere Welt. Ich war dankbar für unseren Dialog und wünschte David aus vollem Herzen, dass er mit seinem Wirken genau das in die Organisationen bringt. Was ist dann alles möglich?